Übertreibung trifft traurige Wahrheit

Von Annemarie Meilinger

Neuburg     Es geht aufwärts — klingt es aus allen Kanälen: mit der Wirtschaft, mit den Beschäftigungsverhältnissen, mit den Autoabsatzzahlen, mit den Wahlergebnissen und mit der allgemeinen Stimmung sowieso. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Das allerorten posaunte „Aufwärts“ weicht dem von der breiten Masse gefühlten „Abwärts“.

Aufwärts gehen nur die Einnahmen der Konkursverwalter, nämlich in die Millionen. Der Berliner Kabarettist Arnulf Rating klärt im Stadttheater auf: Was wie Aufschwung aussieht, ist nur eine leere Blase. Denn aus einem Arbeitsplatz werden heute vier Minijobs und die Abwrackprämie haben wir schließlich selbst bezahlt, wie die Bankencrashs, die Firmenpleiten und schlussendlich die ganze Wirtschaftskrise.

Die Banken nehmen billiges Geld vom Staat und langen schon wieder hin bei den Krediten, die Pharmaindustrie kreiert Krankheiten, um sich auf Staatskosten zu sanieren und die Politik feiert Erfolge. „Der Aufschwung hat ein Gesicht: Angela Merkel. Vor 22 Jahren kam sie zum ersten Mal in Berührung mit einer Banane — Jetzt hat sie eine ganze Republik daraus geformt“. Einst die stärkste Frau der Welt, rangiert sie jetzt auf Platz vier hinter Lady Gaga, weiß Rating.

Dschungelcamp und Dieter Bohlen

Während sich die europäische Politik feiert, scheint das Volk in Lethargie versunken zu sein. 99,9 Prozent befindet sich im Koma vor dem Fernseher und schaut Dschungelcamp und Dieter Bohlen. Der klägliche Rest demonstriert in Stuttgart und verhindert ausgerechnet einen Bahnhof — als ob man nicht froh sein könnte, schnell an Stuttgart vorbeifahren zu können. Sind wir so komatös, weil man uns das Wasser verseucht hat? Schwimmen die Frankfurter Bonuszahlungen von vorgestern schon als „Schnee“ von gestern im Main und bekommen wir die Rückstände in Form von holländischen Tomaten dann wieder auf den Tisch?

Während Stoiber und Oettinger ins politische Endlager nach Brüssel geschickt wurden, versucht sich Westerwelle als neoliberaler Hassprediger und ein vietnamesisches Waisenkind als Gesundheitsminister. In Wirklichkeit — so sagt Rating — werden wir allerdings von der Bertelsmann-Stiftung regiert und ähnlichen Stimmungsmachern, die per USB-Stick den Bürokraten die Gesetzesvorlagen in die Computer lesen. Deutschland schafft sich sowieso ab, noch bevor der Atommüll zu strahlen aufhört: Irgendwann werden Sandro und Chantal keinen Latte Macchiato mehr unter dem dänischen Weihnachtsbaum trinken und, wenn die Rente immer weniger wird, werden die MS Mumienschlepper leer über die Ölteppiche schippern.

Arnulf Rating — einst einer der „Drei Tornados“ — entzaubert sie alle, die in den Talkshows der Sender plappern. Er entlarvt gnadenlos ihre Gier nach Gewinnspanne und Bonusmeile. Unablässig sprudelt er, deckt auf und schürt Misstrauen. Und haut noch ein Häubchen Scharfes obendrauf, oft hart an der Schmerzgrenze. Er fordert sein Publikum und den Widerspruch heraus, und manchmal bleibt irgendwo zwischen Übertreibung und trauriger Wahrheit das Lachen im Hals stecken. Doch einen gut gemeinten Rat werden wohl alle annehmen: „Lesen Sie nie vor der Wahl ein Parteiprogramm — Sie könnten nachher enttäuscht sein“.

© Augsburger Allgemeine, 01.02.2011