Idylle mit Gänseblümchen

Kabarettist Arnulf Rating kam 1972 nach Kreuzberg und ließ sich von Spekulanten vertreiben

Wer den Kabarettisten Arnulf Rating privat in Kreuzberg verortet, der ist spät dran: „Nein, Kreuzberg wurde mir schon in den Neunzigerjahren zu ungemütlich, als dort die Spekulanten auftauchten und alles umkrempelten.“ Rating, der zuletzt in den großen Satiresendungen „Scheibenwischer“ und „Neues aus der Anstalt“ zu sehen war und nächsten Monat einen Gastauftritt in den WDR-„Mitternachtsspitzen“ haben wird, lebt in einer Reihenhausidylle in Lübars. Hinter hohen Hecken mit einem sympathisch unenglischen Rasen – eher lang und mit Hunderten Gänseblümchen: „Ich liebe Wildwuchs.“

Zu fast allen Gastspielen reist Rating mit dem Zug an: „Ich mache ja das Modell ,armes Theater‘ – das muss alles in einen Koffer passen.“ Andere gehen ins Fitnessstudio, er hetzt mit Bühnenbild, Requisiten und Kostümen im Handgepäck über deutsche Bahnhöfe, um seine Anschlusszüge nicht zu verpassen. Bis zum 13. Mai allerdings gestaltet sich die Anreise zu seinen abendlichen Auftritten sehr unkompliziert, denn der 56-Jährige gastiert gerade im Kabaretttheater „Wühlmäuse“ am Theodor-Heuss-Platz. „Das ist die bestausgestattete Kabarettbühne, die ich kenne. Mit Drehbühne, sehr gutem Licht und guter Akustik.“ Hier zeigt er „Schwester Hedwigs allerschwerste Fälle“, steht als Arnulf Rating, Schwester Hedwig, BND-Mann, Neuköllner Lehrerin, Zukunftsforscher, Krötenschutzbeauftragter und Bundeswehrausbilder auf der Bühne. Was ursprünglich als Best-of-Programm gedacht war, entglitt Rating ein wenig: Statt seine besten Solonummern aneinanderzureihen, konnte er dann doch nicht der Versuchung widerstehen, die aktuelle Politik ausführlich zu kommentieren. Rating hat immer und überall ein Notizbuch griffbereit, sammelt ständig Anregungen für aktuelle Ergänzungen seines Programms. So qualifizierte sich erst gestern eine Millionärsgattin aus West-Berlin durch eine steile These in einem Boulevardblatt („Die DDR hat uns ja quasi übernommen.“) für sein Programm: „Daraus mache ich eine Nummer mit dieser Frau als Wendeverliererin!“

Arnulf Rating ist seit 1972 Berliner. „Damals kam ich aus dem vergleichsweise zivilisierten Nordrhein-Westfalen nach West-Berlin und war geschockt. Der Westteil der Stadt sah damals aus wie kurz nach der Maueröffnung viele Gegenden im Osten: Einschusslöcher in den Fassaden – so als wäre der Krieg gerade erst zu Ende gegangen.“ Rating gehörte zu den Gründungsmitgliedern der inzwischen legendären Kabaretttruppe „3 Tornados“, die immer dabei war, wenn irgendwo gegen ein Atomkraftwerk, eine Startbahn oder Autobahnen protestiert wurde. „Wir waren Bestandteil dieser ganzen Bürgerbewegungen und haben fürchterlich gelacht, als wir zum ersten Mal in das Düsseldorfer Kommödchen eingeladen wurden. Das war für uns nämlich bürgerliche Dekadenz, das war Sozialdemokratie!“ Inzwischen tritt er ganz selbstverständlich in bürgerlich-dekadenten Läden wie dem genannten auf. Und lässt zwischendurch die Gänseblümchen sprießen.

Andreas Kurtz

© Berliner Zeitung, 05.05.2008